Fußball ist die bessere Religion

Fußball ist die bessere Religion

Fußball ist die bessere Religion

Das Duell mit dem Zufall stiftet mehr Sinn und Lebenslust als jedes himmlische Heilsversprechen.

Fußball ist eine Frage des Glaubens. Das findet sogar der Papst. Jorge Maria Bergoglio, der momentan als Expat in Rom arbeitet, ist als waschechter Argentinier natürlich Fan und Mitglied eines Fußballvereins. Als sein Lieblingsclub Atletico San Lorenzo 2008 das 100. Jubiläum beging, segnete er, damals Erzbischof von Buenos Aires, die Seinen bei einer Messe im Stadion – und hatte endlich mal das ganz große und glückliche Publikum. „Los Santos“, die Heiligen, werden die Anhänger des Vereins gern genannt. Heiligkeit – diesen theologischen Status hat der weltweite Katholikenchef durch Fußball also bereits erreicht. Ob ihn ein Amtsnachfolger irgendwann heiligsprechen wird, ist noch die Frage.

Sein Landsmann Diego Maradona hat es als Kicker sogar noch weiter gebracht als der Papst: Ihm weihten die Argentinier eine eigene Kirche und beten auch jetzt noch die göttliche Inspiration im Körper Maradonas an, obwohl sich dort längst das Fett und das Alter – und im Kopf der Wahn – breitgemacht haben. Doch wirklich Frommen, man kennt das ja, ist der körperliche Niedergang ihres Messias völlig schnuppe. Sie glauben an das Ideal, das dieser Menschensohn einst verkörperte. Weil sich Maradonas spielerisches Genie aus den 1980er-Jahren anders als durch Übersinnlichkeit nicht begreifen lässt, verehren auch seine Anhänger in Neapel den Fußballer als Heiligen – komplett mit Altar, Tränenbehälter, Haar-reliquie und Heiligenbildchen in einer Gasse der Altstadt. Und sie spielen seine Herabkunft in diese heruntergekommene Stadt alljährlich mit einem Festumzug und einem Diego-Darsteller nach.

Ist der Fußball also eine Religion? Natürlich! Er ist sogar die bessere Religion. Sämtliche prophetischen Heilslehren, die seit gut 2000 Jahren mit Berufung auf ein höheres Wesen bei der Menschheit Konjunktur haben, versprechen ihren Anhängern ein besseres Leben – aber erst nach dem Tod. Der Fußball ist da sehr viel konkreter. Da bekommen wir die Antwort bereits nach 90 Minuten, in denen der echte Fan oft genug durch Himmel und Hölle gehen musste. Allenfalls – und das gibt es im echten Leben auch nicht – kriegt das Spiel eine Verlängerung. Und was das Gnädigste ist: Nach dem Abpfiff ist es nicht mehr lang bis zum nächsten Spiel. „Im Fußball geht es weiter, immer weiter!“ (Oliver Kahn) Vergleichen wir das mit dem lebenslangen Bemühen der Sündenvermeidung, des beständigen Betens, Spendens und Glaubens mit ungewissem Ausgang noch nach der letzten Ölung, dann steht es für die Religion Fußball mindestens 1 : 0.

Auch deshalb hat Fußball mehr Anhänger als jede andere Weltreligion. Bei Groß-ereignissen wie dem WM-Finale oder dem Endspiel der Champions League schauen bis zu zwei Milliarden Menschen rund um den Erdball zu. Kein anderes soziales Ereignis bringt Buddhisten und Evangelikale, Muslime und Konfuzianer, Juden und Katholiken locker unter einen Hut und aus dem Häuschen. Woche für Woche marschieren allein in Deutschland viele hunderttausend Fans in die Stadien und stellen mit ihren inbrünstigen Lobgesängen und Ritualen alle braven Kirchgänger spielend in den Schatten.

Weil Fußball wie das Leben an sich ein Wettkampf mit dem Ungewissen ist, ein Duell mit dem Zufall, sind seine Anhänger durchdrungen von magischem Denken: Spieler bekreuzigen sich beim Betreten des Platzes, Trainer tragen ihre vermeintlichen Glückshemden und -jacken. Und der Verkauf von Devotionalien – von der Club-Bettwäsche bis zum Kondom in Vereinsfarben – ist längst ein Milliardengeschäft. Fußball verkauft sich blendend, weil er echten Trost verkauft. Das reicht bei dankbaren Gläubigen weit über den Tod hinaus. In England, aber auch bei deutschen Kultclubs wie Schalke 04 oder dem Hamburger SV kann man sich auf Vereinsfriedhöfen begraben oder die eigene Asche auf umgewidmetem Spielrasen verstreuen lassen – und wächst so als Dünger des Fußballglaubens dem nächsten Sieg entgegen.

Als vor einigen Wochen der größte Fußballspieler und -taktiker, den Europa jemals hervorbrachte, starb, pilgerten die Anhänger zu Tausenden an seine beiden Wirkungsstätten in Barcelona und Amsterdam. Johan Cruyff wurde am Spieltag der niederländischen „Eredivisie“ (Ehrendivision) vereinsübergreifend mit minutenlangem Applaus in allen Stadien geehrt. Menschen brachen weinend zusammen. Das öffentliche Leben stand still. Weil sich das alles rund um Ostern abspielte, wies der Nachrichtensprecher des niederländischen Fernsehens dezent darauf hin, dass es in diesen Tagen auch um einen anderen JC gehe. Doch der musste im Jahr 2016 zurückstehen.

Ziehen wir traurige Bilanz, was andere Religionen weltweit an Unheil stiften, kommt der Fußball trotz Milliarden von Fanatikern blendend weg. Nicht erst seit den Kreuzzügen rotten Frömmler aller Konfessionen einander mit Schwert und Bomben aus. Jeder Gläubige ist dem anderen ein todgeweihter Ketzer. Dieser Hang zu Gewalt ist auch dem Sportsfreund „Homo ludens“ in die Gene geschrieben: Schalker hassen Dortmunder. ManU wünscht Liverpool alles Schlechte. Wie in jeder Religion definiert sich der Auserwählte am lustvollsten durch das, was er nicht ist. Doch begreifen Fußballfans wenigstens, dass es ohne Konkurrenz nicht geht. Diese Religion – und das beweist ihre Überlegenheit – benötigt die anderen Konfessionen für den Spiel-betrieb. Zwar gibt es bei Gewalttätigkeiten zwischen Fans häufig Sachschäden und Verletzte, zuweilen sogar Tote. Doch andere Religionen sind sehr viel blutiger. Kein Wunder, dass der islamistischen Konkurrenz bei der Attacke auf das französische Nationalstadion im November kein genialer Spielzug einfiel, sondern nur dump-fer, feiger Mord.

Der recht gewaltlose Fußball ist auch darum die passende Religion für unsere bunte Medien- und Konsumepoche, weil man ihn kaufen kann – per Fernsehvertrag, per Medienkonsum mit News und Tratsch und Filmchen oder per Dauerkarte im Stadion. Und weil er mit seinem wiederkehrenden Festkalender aus Liga, Pokal, Champions League und Europa- oder Weltmeisterschaften viel unterhaltsamer ist als die immergleichen Litaneien in den Tempeln des unrunden Mono-theismus. Dort steht der Meister immer schon vor dem Gottesdienst fest. Dort ist Grölen, Hüpfen und Abknutschen verboten. Und es gibt statt Bier und Bockwurst allenfalls eine trockene Hostie. Kein Wunder, dass das zuweilen sogar dem Papst zu fade wird. 90 Minuten innerweltliche Erlösung sind einfach geiler als eine ungewisse Ewigkeit.

Autor: Dirk Schümer lebt als „Die Welt“-Korrespondent in Venedig, ist Buchautor (unter anderem: „Gott ist rund – die Kultur des Fußballs“, Suhrkamp Verlag 1998) und Fan des SC Freiburg